Am 15. Mai 2017 verstarb in Berlin der Historiker Kurt Gossweiler. Die Konstante seines Lebens, das beinahe 100 Jahre währte, war der konsequente Antifaschismus, in praktischer wie theoretischer Hinsicht.
Gossweiler wurde am 5. November 1917 in Stuttgart geboren. Im Alter von zehn Jahren übersiedelte er mit Mutter, Stiefvater und Schwester nach Berlin. Hier erlangte er politische Bildung an der Karl-Marx-Schule und engagierte sich im „Sozialistischen Schüler-Bund“, einer Vorfeldorganisation der KPD, der auch seine Eltern angehörten.
Als im Jahr 1933 in Deutschland die faschistische NS-Diktatur etabliert wurde, war dies ein einschneidendes Erlebnis für den Fünfzehnjährigen – und es sollte der entscheidende Moment für sein späteres wissenschaftliches Wirken sein: Die Frage, wie der Faschismus an die Macht kommen konnte – und dies trotz einer mächtigen ArbeiterInnenbewegung in Form von KPD und SPD –, sollte Gossweiler sein Leben lang begleiten. Unmittelbar, 1934, wurde er Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes (KJVD) und sammelte bis 1939 Erfahrungen im illegalen antifaschistischen Widerstand – doch dann wurde er zur Wehrmacht eingezogen.
In den ersten Jahren des Zweiten Weltkrieges wird Gossweilers Einheit in Frankreich und Polen eingesetzt, 1941 ist sie am Überfall auf die UdSSR beteiligt. Der verbrecherische Charakter des Krieges des NS-Regimes steht für Gossweiler außer Zweifel, er fasst – noch keine 25 Jahre alt – Pläne, aus der Wehrmacht zu desertieren und zur Roten Armee der Sowjetunion überzulaufen. Nach einer Verwundung im März 1943 ergibt sich hierfür die Gelegenheit – er wechselt gemäß seiner Gesinnung die Fronten. Nach seiner Genesung in einem sowjetischen Lazarett und Gefangenenlager – Gossweiler erlernt in dieser Zeit die russische Sprache – kommt er als Schüler an die Antifa-Schule im sibirischen Taliza, wo er von 1944 bis 1947 sodann als Lehrer fungiert.
Mit Ende seiner Lehrtätigkeit kehrt Gossweiler nach Berlin zurück und wird Mitglied der SED. Bis 1955 ist er vorrangig mit organisatorischen Tätigkeiten befasst, dann nimmt er eine Stelle als Aspirant und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität ein. 1963 promoviert er mit einer viel beachteten Analyse der „Röhm-Affäre“, 1972 habilitiert er sich mit der wegweisenden Arbeit „Großbanken, Industriemonopole, Staat“. Von 1970 bis 1983 – dem Jahr seiner Emeritierung – ist Gossweiler am Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR tätig.
In dieser Zeit (und danach) macht sich Gossweiler als einer der fundiertesten und wichtigsten Faschismusforscher des 20. Jahrhunderts einen Namen. Als marxistisch-leninistischer Historiker baut er seine Arbeit auf der Marxschen Klassen- und Kapitalismusanalyse, Lenins Imperialismustheorie und Dimitroffs Faschismusbetrachtung auf. Sein besonderes Augenmerk gilt der Rolle des Groß- und Finanzkapitals – der Monopole –, die (bei durchaus unterschiedlich orientierten Gruppen) hinter dem Faschismus stehen. Angelegt als grundsätzliche Tendenz des Monopolkapitalismus (oder Imperialismus), versteht Gossweiler die faschistische Diktatur als spezifische Herrschaftsform der aggressivsten und reaktionärsten Teile des Monopolkapitals im staatsmonopolistischen Kapitalismus, die sich mit ihrem Drang nach Ausschaltung der ArbeiterInnenbewegung und der bürgerlichen Demokratie, nach wirtschaftlicher und militärischer Expansion durchsetzen.
Damit ist auch gesagt, dass – unbeschadet der antifaschistischen Bündnispolitik im konkreten Kampf und in der strategischen Überlegung – der konsequenteste Antifaschismus der Sozialismus ist, der endgültig die klassenlose Gesellschaft darstellt. Hierfür stehen nicht nur die Widerstandsfähigkeit und der Sieg der UdSSR über den deutschen Faschismus und seine Verbündeten im Zweiten Weltkrieg, sondern auch das Selbstverständnis der DDR als antifaschistischer Staat, während man sich in der BRD mit dem Faschismus bald nach Kriegsende wieder aussöhnte und die Linke – somit auch den entschiedenen Antifaschismus – als Hauptfeind ansah. Um einen neuen Faschismus zu verhindern, braucht es demnach eine starke, organisierte, theoretisch und strategisch fundierte ArbeiterInnenbewegung, die Einheit der ArbeiterInnenklasse sowie eine geglückte Bündnispolitik über diese hinaus. Dass der Imperialismus an sich nicht nur nicht friedensfähig, sondern keinesfalls im eigentlichen Sinne antifaschistisch sein kann, ist dabei zu beachten.
Gossweiler war historischer Optimist. Trotz der beständigen Drohung, Gefahr und tatsächlichen Präsenz, die der Faschismus einerseits in Form neofaschistischer Bewegungen in Westeuropa, aber auch in Form der Diktaturen in Spanien und Portugal, Griechenland und Chile ausübte, erschien die sozialistische Staatenwelt in Europa und darüber hinaus als Garant gegen einen neuen Siegeszug des Faschismus. Dies gilt übrigens auch für die Faschismusforschung selbst: Während sich die bürgerliche „Wissenschaft“ hauptsächlich und ganz bewusst um faschismusapologetische Ansätze scharte – etwa um die v.a. antisozialistische „Totalitarismus“-Doktrin oder die gänzlich irreführende „Hitlerismus“-Personifizierung –, war eine umfassende Arbeit auf Basis der marxistisch-leninistischen Faschismustheorie natürlich nur in der DDR möglich. In der BRD hätte Gossweiler freilich keine Professur erhalten, sondern wäre eher ein Kandidat für ein „freiheitlich-demokratisches“ Berufsverbot gewesen.
Es ist nur verständlich, dass mit der Niederlage des Sozialismus in Europa, mit dem Ende der UdSSR, der DDR und der anderen sozialistischen Staaten 1989-1991 für Gossweiler eine neue brennende Frage auftauchte: Standen bislang die beiden Punkte im Mittelpunkt: Wie konnte der deutsche Faschismus 1933 siegen und wie ist ein neuer Faschismus zu verhindern? – so widmete er sich ab den 1990er Jahren zunächst vermehrt und sodann vollständig der Niederlagenanalyse angesichts des Sieges der Konterrevolution, die, wie zu bemerken war, auch dem Faschismus neuen Auftrieb gab. Gossweiler beantwortete die neue Frage: Wie konnte die Konterrevolution siegen? Mit dem Aufkommen des modernen Revisionismus in der sozialistischen und kommunistischen Bewegung, die den Klassenkampf – und damit den konsequenten antifaschistischen Kampf – lähmte, aber auch die Widerstandsfähigkeit der sozialistischen Staaten schwer beschädigte. Zugeständnisse und Illusionen gegenüber den USA, der NATO, der EG – also gegenüber dem Weltimperialismus – mussten zu weiteren ideologischen und politischen Schwankungen sowie zu ganz praktischen, materiellen, ökonomischen Schwächungen führen, auf deren Basis das staatspolitische Bollwerk gegen den Imperialismus und Faschismus zum Großteil beseitigt und auch vielen westeuropäischen antifaschistischen Organisationen das Rückgrat gebrochen werden konnte.
Welchen Niederschlag diese jüngere Forschungsarbeit Gossweilers haben wird, erscheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch offen – zweifellos wird sie nicht überall goutiert. Gossweilers Beiträge zur Faschismusanalyse und -theorie sind jedenfalls von bleibendem Wert: Ohne sein Werk und Wirken ist ein umfassendes Verständnis des zwingenden Zusammenhangs zwischen Monopolkapitalismus und Faschismus, zwischen Banken, Industrie, autoritärer Staatsentwicklung und Förderung faschistischer Gruppierungen kaum möglich. Dieses Wissen ist nicht nur eines von akademischem Interesse, sondern ein notwendiges für den praktischen Antifaschismus unserer Tage. Der Feind ist nicht abstrakt, sondern fassbar, er vertritt Interessen und verfolgt Strategien. Diese muss man kennen, um ihn erfolgreich bekämpfen zu können.
In diesem Sinne ist Kurt Gossweilers Vermächtnis ein doppeltes: Sein Wirken als Antifaschist der Tat, bereits in jungen Jahren, ist ein Vorbild an Mut, Überzeugung und Unbeugsamkeit. Sein Werk als Historiker hinterlässt uns unerlässliche Einsichten, die so lange Bedeutung haben werden, wie es den Monopolkapitalismus und somit die Gefahr des Faschismus geben wird.
Neuauflagen als Auswahl von Kurt Gossweilers Werk:
Kapital, Reichswehr und NSDAP
Zur Frühgeschichte des deutschen Faschismus 1919 bis 1924
471 Seiten, € 28,80
ISBN: 978-3-89438-455-5
Großbanken, Insustriemonopole und Staat
Ökonomie und Politik 1914 bis 1932
377 Seiten, € 24,70
ISBN: 978-3-89438-519-4
Der Putsch, der keiner war
Die Röhm-Affäre 1934 und der Richtungskampf im deutschen Faschismus
496 Seiten, € 28,80
ISBN: 978-3-89438-422-7
Text aus: der neue Mahnruf 3/2017
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